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Unternehmenskultur, Softwareentwicklung und Architektur

3. Februar 2021

Agile for everyone

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6 Minuten Lesedauer

Photo by Andrea Lightfoot on Unsplash

Scrum. Kanban. Scrumban. Extreme Programming. Das alles sind agile Prozesse oder Frameworks. Man kennt sie allgemein im Kontext der Softwareentwicklung. Heutzutage entwickelt man Software schließlich agil. Agilität ist also etwas, womit sich nur ITler auseinandersetzen, und nur im Kontext ihrer Arbeit ist das sinnvoll. Agilität ist etwas für Nerds.

Ist das so, ist das wirklich so? Der Titel sagt es schon: Nein, das ist ganz und gar nicht so!

Mit unserer Arbeit bewegen wir uns immer irgendwie zwischen den Extremen Ordnung und Chaos: In einer geordneten Welt gibt es keine Veränderungen im Arbeitsprozess. Auch die Einflussfaktoren ändern sich nicht. Wir können langfristig planen und unseren einmal gefassten Plan ohne Änderungen umsetzen. Gibt es dagegen sehr viele Einflussfaktoren, die sich auch noch häufig und unvorhersehbar ändern, herrscht Chaos. Hatten wir einmal einen Plan, haben wir schnell keinen mehr. Planen lohnt sich praktisch nicht.

Verglichen mit dieser chaotischen Welt ist die Welt zwischen den Polen Ordnung und Chaos von weniger Einflussfaktoren geprägt, die sich ändern. In einem kleinen Umfang und Zeithorizont sind die Dinge dann tatsächlich plan- und umsetzbar. Wir haben einen kurzfristigen Plan. Im Laufe des Prozesses passen wir unseren kurzfristigen Plan immer wieder an, je nach bereits umgesetztem Umfang unserer Arbeit. Wir gehen also (irgendwie) agil vor.

Bedeutung & Ursprung

Was bedeutet das denn eigentlich? Agilität hat seinen Ursprung im lateinischen agilitas, das “Beweglichkeit” oder “Schnelligkeit” bedeutet und im übertragenen Sinn auch die Biegsamkeit des Charakters meinen kann. Die Bedeutung des englischen Agility entspricht dem lateinischen Ursprung. Zusätzlich gibt es im Deutschen aber noch eine ganz eigene Bedeutung: Der Duden versteht darunter eine “Sportart für Hunde, bei der ein Hund einen Parcours mit Hindernissen zu bewältigen hat, wobei der Besitzer nebenher mitläuft.” Auch hier könnte man natürlich sagen, dass das immer noch nur etwas für Nerds ist, die IT- und Arbeitswelt haben wir jedoch bereits verlassen – genau wie beim biegsamen Charakter.

Photo by Yuriy Chemerys on Unsplash

Unter agilem Arbeiten (oder Vorgehen) verstehen wir also ganz allgemein die Fähigkeit einer Person oder einer Organisation (oder eines Hundes), sich schnell auf veränderliche Einflussfaktoren einzustellen, um so Ziele erreichen (und Hindernisse umgehen) zu können. Und das kann man lernen.

Ganz oft sind wir agil, ohne dass uns das immer so bewusst wäre:

  • Wir gehen schrittweise vor, um so Veränderungen zu erkennen.

  • Wir verfügen über eine hohe Autonomie, um so selbst auf Veränderungen reagieren zu können.

  • Wir setzen den Fokus auf Ziele, um begrenzte Ressourcen auf diese Weise sinnvoll einsetzen zu können.

Historie

Das scheint etwas so Grundsätzliches und Allgemeines zu sein, dass es doch unmöglich erst eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sein kann!

Photo by Lenny Kuhne on Unsplash

Richtig, als Toyota Ende der 1940er Jahre die “Just-in-Time”-Produktion (Toyota Production System, TPS) einführte, ging daraus Kanban hervor – eine Arbeitsmanagement-Methode, die heute in verschiedenen Branchen eingesetzt wird, vor allem aber als agiles Vorgehensmodell in der Softwareentwicklung bekannt ist. Dabei wurde die Produktion erstmals an der Kundennachfrage ausgerichtet. Hauptzweck ist die Minimierung von Aktivitäten, die zu Verlusten führen, ohne dabei aber die Produktivität zu beeinträchtigen. Das Ziel dahinter ist, mehr Wert für die Kunden zu schaffen, ohne dabei Zusatzkosten zu verursachen. Wesentliche Elemente dabei sind Selbstorganisation und Transparenz, die sich in den zugehörigen Praktiken und Prinzipien widerspiegeln. Besonders deutlich wird das beim Blick auf ein typisches Kanban-Board:

Der Workflow ist visualisiert, im einfachsten Fall besteht er aus den drei Stufen (“Zu erledigen”, “In Arbeit” und “Fertig”). Die laufende Arbeit ist begrenzt, das heißt, es ist festgelegt wie viele Aufgaben sich gleichzeitig in Arbeit befinden dürfen. Die Prozessrichtlinien sind gemeinsam beschlossen, ausformuliert und verstanden. In regelmäßigen Feedback-Schleifen wird sowohl über den Prozessfortschritt als auch den Prozess selbst gesprochen, um die Zusammenarbeit zu verbessern.

Parallelen dazu finden sich mit Scrum und Extreme Programming in weiteren Vorgehensmodellen, die insbesondere in der IT und Softwareentwicklung zum Einsatz kommen, aber auch im Lean Management oder Objectives and Key Results (OKR), was allgemeine Management-Systeme sind.

Unabhängig von konkreten Vorgehensmodellen hat der amerikanische Soziologe Talcott Parsons in den 1950er Jahren das AGIL-Schema als systemtheoretisches Modell geprägt:

Adaptation – auf äußere Bedingungen reagieren.
Goal Attainment- gemeinsame Ziele verfolgen.
Integration – eine Gemeinschaft schaffen.
Latency – ein kulturelles Wertesystem aufrechterhalten.

Agilität als soziales Konzept

Diese Funktionen des sozialen Systems finden sich in den Vorgehensmodellen wieder. Offenbar geht es bei Agilität also mehr um diejenigen, die die Arbeit erledigen – und wie sie es tun – als um die Arbeit, die zu erledigende Aufgabe, selbst.

Photo by Quino Al on Unsplash

Im Fokus stehen also die agilen Werte. Ihre konkrete Ausprägung und Formulierung variiert je nach Quelle und Perspektive. Ihre Aussage ist im Kern jedoch die gleiche. Exemplarisch werfen wir einen Blick auf die Beschreibung der Werte aus der aktuellsten deutschen Übersetzung des Scrum Guides aus dem Jahr 2017 (aktuellste offizielle Version, englisch):

Wenn die Werte Commitment, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt durch das Scrum Team verkörpert und gelebt werden, werden die Scrum-Säulen Transparenz, Überprüfung und Anpassung lebendig und bauen bei allen Beteiligten Vertrauen zueinander auf. Die Mitglieder des Scrum Teams lernen und erforschen diese Werte, indem sie mit den Scrum Events, -Rollen und -Artefakten arbeiten.

Der erfolgreiche Einsatz von Scrum beruht darauf, dass alle Beteiligten kompetenter bei der Erfüllung dieser fünf Werte werden. Sie verpflichten sich persönlich dazu, die Ziele des Scrum Teams zu erreichen. Die Mitglieder des Scrum Teams haben den Mut, das Richtige zu tun und an schwierigen Problemen zu arbeiten. Jeder fokussiert sich auf die Arbeit im Sprint und die Ziele des Scrum Teams. Das Scrum Team und seine Stakeholder sind sich einig, offen mit allen Belangen ihrer Arbeit und den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen. Mitglieder von Scrum Teams respektieren sich gegenseitig als fähige, eigenverantwortliche Individuen.

Weitere agile Werte, die uns oft begegnen, sind Einfachheit, Feedback und Kommunikation, Lernen und Vielfalt. Zusammenfassend können wir also feststellen, dass wir agil und clever sind, wenn wir

  • immer unsere Stakeholder auf dem Schirm haben

  • uns dabei an unseren Werten orientieren

  • unsere Aufgaben priorisieren (und auch mal Nein sagen)

  • durch Feedbackschleifen lernen

All das ist keine Einbahnstraße, sondern Teil der kulturellen Basis erfolgreichen agilen Arbeitens. Alle müssen mitspielen. Insofern erfordert Agilität auch die Bereitschaft die Identität und Kultur einer Organisation zu transformieren.

Anwendung

Mit dem Wissen um die sozialen Aspekte der Agilität erscheint es regelrecht absurd, dies einzig und allein auf die IT-Welt allgemein und die Softwareentwicklung im Besonderen zu begrenzen. Wohl aber bietet dieser Kontext mit seinen sich ständig ändernden Einflussfaktoren ein Umfeld mit guten Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen für die Anwendung agiler Praktiken und Hilfsmittel, weshalb sie dort besonders populär sind.

Vor einiger Zeit hatten unsere “IT-fremden” Teammitglieder um einen Workshop gebeten, in dem wir ihnen nahegebracht haben, wie wir Nerds arbeiten. Einerseits wollten sie einen besseren Einblick in unsere Arbeitsweise bekommen, da sie an verschiedenen Stellen immer wieder damit konfrontiert sind. Auf der anderen Seite wollten sie auch sehen, ob sie davon etwas für ihre eigene Arbeit übernehmen können.

Also nahmen Ramon und ich uns einen Vormittag Zeit und erläuterten Grundlagen und wesentliche Prinzipien. Das Ergebnis dieser Runde war für uns sehr interessant: Wir konnten nicht viel Neues oder Überraschendes vermitteln: “Das machen wir doch schon seit Jahren!”

Wir sprachen auch über die Bedeutung von Retrospektiven zur Verbesserung des Arbeitsprozesses und der Zusammenarbeit. “Das brauchen wir nicht” oder “Dafür haben wir keine Zeit” hieß es dazu – und praktisch im gleichen Atemzug diskutierten sie über Probleme, die sie in der Organisation ihrer Arbeit sehen, überlegten, was verändert werden könnte, um sie zu lösen.

Photo by Fabien Bazanegue on Unsplash

Ramon und ich beobachteten dieses Treiben für eine Weile. Irgendwann flüsterte ich Ramon nur zu: “Siehst du, was ich sehe? Sie wollen es nicht so nennen, doch sie sind mitten in einer Retrospektive!” Ramon entgegnete: “Sollten wir es ihnen sagen?”

Es kommt weniger darauf an, wie man es nennt. Es ist eine Frage der Kultur. Agil tut man nicht, man ist es.

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